PSYCHE UND LEBEN.
VON Dr. W. v. BECHTEREW, AKADEMIKER UND o. Ö. PROFESSOR DER KAISERL. MEDIZINISCHEN AKADEMIE, PRÄSIDENT DES PSYCHO-NEUROLOGISCHEN INSTITUTES ZU ST. PETERSBURG. ZWEITE AUFLAGE. WIESBADEN. VERLAG VON J. F. BERGMANN.
1908. Vorwort zur zweiten deutschen Auflage. Aufgabe vorliegender Untersuchung ist in erster Linie die Darstellung der nahen Beziehungen, die zwischen Leben und Psyche bestehen. Beide, Leben und Psyche, sind Ausdruck einer Reserveenergie, die der Organismus vermittelst äußerer Perzeptionsorgane erwirbt, welche die äußeren Energien der umgebenden Natur im wahren Sinne des Wortes umgestalten. Die Organismen mit ihren Lebenstätigkeiten und psychischen Vorrichtungen können von einem rein biologischen Standpunkt betrachtet werden als zusammengesetzte Systeme beweglicher organischer Verbindungen, deren Grundfunktionen - Reizbarkeit und Stoffwechsel - auf einem Freiwerden von Energie beruhen, deren Vorräte beständig im Organismus und in den Ganglien seiner Zentralorgane wiederhergestellt und. ergänzt werden durch Umwandlung von Energien der umgebenden Natur, die fortwährend auf die perzipierenden Oberflächen und speziellen Organe des Körpers einwirken. Was das Psychische betrifft, so steht der Verfasser überall auf dem Standpunkt jener objektiven Richtung, die er bereits in einer ganzen Reihe von Untersuchungen der letzten Jahre vertritt. Dieser Standpunkt geht davon aus, dass die psychische Tätigkeit neben subjektiven der Selbstbeobachtung zugänglichen Erscheinungen überall auch von objektiven Veränderungen im Nervengewebe bezw. Von komplizierten chemisch-molekularen Prozessen begleitet ist. Die psychischen Prozesse sind hinsichtlich ihrer Äußerungen der Untersuchung ebenso zugänglich, wie alle übrigen Organismusfunktionen. Die Vorgänge, um die es sich dabei handelt, haben einen Einfluss von Spuren früherer Einwirkungen auf die Außenreaktionen des Organismus zur Voraussetzung, Wirkungen, die auf einer assoziativen und reproduktiven Tätigkeit des Nervensystems beruhen und als weitere Entwicklung gewöhnlicher Reflexe sich darstellen. Das Studium der psychischen Erscheinungen nach dieser Richtung hin ist als Bestandteil der biologischen Wissenschaft bezw. der objektiven Erforschung der Organismen und ihrer Funktionen aufzufassen. Es ist bestimmt, diese Forschung und ihre Aufgaben wesentlich zu erweitern. Fragen allgemeiner Art, die das Verhältnis zwischen biologischen und sog. psychischen Organismusfunktionen betreffen, finden auf diesen Blättern Behandlung. Die psychobiologischen Grundfragen erwecken gegenwärtig immer mehr die Aufmerksamkeit der Gelehrten und Gebildeten. Denn Psyche und Leben in ihren Wechselbeziehungen berühren in radikaler Weise die wichtigsten Seiten unserer Weltanschauung. Ihrer kann sich die biologische Forschung und der denkende Geist nirgends entschlagen. In diesem Sinne glaubte Verf. Tatsachen, die die moderne Wissenschaft über die Beziehungen zwischen psychischen und materiellen Organismusprozessen und über den Zusammenhang der psychischen Tätigkeiten mit den Lebensäußerungen aufweist, einer Betrachtung unterwerfen zu sollen. Naturgemäß kann es sich bei einem Gegenstand, wie der hier untersuchte, nur um Feststellung des Wesentlichen handeln; alles Detail bleibt zukünftiger Forschung überlassen. Seit dem Erscheinen der ersten deutschen Ausgabe dieser Schrift, die im Jahre 1902 unter dem Titel: »Die Energie des lebenden Organismus und ihre psycho - biologische Bedeutung« veröffentlicht wurde, ist eine zweite russische Ausgabe und unlängst auch eine französische aufgetreten, letztere wesentlich ergänzt und nach dem Stande der Forschung umgearbeitet. Gegen die erste deutsche Ausgabe ist auch die vorliegende zweite beträchtlich ergänzt und neubearbeitet. Mehrere Mängel, Versehen und Unklarheiten der Ausdrucksweise konnten hier beseitigt, neue Tatsachen der Psychobiologie nachgetragen werden. In allem übrigen, namentlich was die Auffassung der nahen Beziehungen zwischen Psyche und Leben als Energiederivaten betrifft, ist der ursprüngliche Text aufrecht erhalten. Oktober 1907. W. v. Bechterew. Inhalts-Übersicht. Seite
I. Das Wesen der Seelentätigkeit im Lichte philosophischer Betrachtung. Verschiedene Anschauungen über die Natur der Seelentätigkeit. Dualismus und Monismus. Spiritualistischer und materialistischer Monismus und Monismus im eigentlichen Sinne des Wortes. Die Lehre von Plato, Descartes, Leibnitz, Herbart, Kant, Fichte und Hegel, Hobbes, La-Metrie, Helvetius, Holbach, Büchner, Moleschott und Vogt, Spinoza; die Lehren der Deisten, Schelling, Schopenhauer und Hartmann. Kritik des Dualismus, des monistischen Spiritualismus, des Materialismus und des Monismus im eigentlichen Sinne des Wortes (Lehre Spinoza's). Erfolge des modernen Materialismus, Errungenschaften der neueren Psychiatrie. Anwendung von Experiment und Mathematik. Weber, Fechner, Wundt, Preyer als hervorragende Vertreter der experimentellen Richtung in der Psychologie. Bedeutung des Tierexperimentes und der Abtragung von Teilen der Großhirnrinde für die Entwickelung der modernen Psychologie. Bedeutung pathologischer Fälle von Zerstörung bestimmter Rindengebiete. Energetischer Monismus. l - 12 II. Die gegenseitigen Beziehungen zwischen Psychischem und Physischem und der psycho-physische Parallelismus. Die neuere Lehre von der Wechselwirkung und die moderne Lehre des Parallelismus. Ersatz des Begriffes der kausalen Korrelation nach Avenarius und Mach durch den Begriff der funktionellen Wechselbeziehung. Monistische Erklärung des Parallelismus zwischen physikalischen und psychischen Prozessen. Bedenken gegenüber dem monistischen Parallelismus. Die Lehre W. Wundt's. 13 - 19 III. Der physikalische Energetismus und der Begriff der psychischen Energie. Hinfälligkeit des Dualismus in bezug auf Kraft und Materie in der Physik. Die Lehre Ostwald's. Anwendung des Energetismus von Ostwald auf die psycho-physische Energie durch Laßwitz. Siegwart, Sturmer und Stumpf über psychische Energie. Die Anschauungen des Philosophen N. Grot über psychische Energie. 20 - 33 IV. Psyche und Materialismus. Die Unzulässigheit der Annahme zweier Energien, einer psychischen und nervösen. Bewußtsein kann nicht Folge materieller Faktoren sein. Die Irrlehren H au p t m a n n ' s. Anschauungen von Du Bois-Reymond und Griesinger, Höfding, Lopatin. W. Wundt, Wentscher. 34 - 37 V. Die Rolle der Energie in den psychischen Erscheinungen. Notwendige Annahme einer Energie, als einer besonderen Form der Weltenergie, zur Erklärung der Erscheinungen desParallelismus. Alle geistigen Bilder sind innere Anzeichen jener quantitativen Veränderungen, welche in uns die Energie äußerer Agentien erleidet. Energie ist Ursache sowohl der psychischen, als auch der materiellen Prozesse in den Zentren. Energie als innere Ursache des Tätigkeitszustandes der Zentra. Der Urquell der Energie der Zentra ist zu suchen in äußeren Einwirkungen auf unsere Sinneswerkzeuge und in inneren Verhältnissen der Ernährung und der chemischen Umsetzungen. 38 - 44 VI. Das Gesetz der Energieerhaltung in Anwendung auf das Psychische. Versuch die Seelentätigkeit unter das Gesetz von der Erhaltung der Energie unterzuordnen. Ansicht von Grot und Krainski. Kritik der Ansichten dieser Forscher. In dem Seelenleben haben wir es zu tun nicht mit psychischer Energie, sondern mit subjektiven Erscheinungen, und deren Ursache liegt in der Energie, welche zusammen mit den psychischen Erscheinungen die gleichzeitig auftretenden physikalischen Veränderungen des Gehirnes bedingt. Der Vorrat an Energie der Zentra entsteht einerseits durch Übergang physikalisch - chemischer Energien in Energie der Zentra während der Gehirnernährung, andererseits durch Umwandlung jener physikalisch-chemischen Energien, welche auf unsere Sinnesorgane zur Einwirkung kommen. Bei den höheren Tieren erscheinen als Träger der neuro-psychischen Energie das Nervensystem und zwar die höchsten Zentra desselben. Auch die unbewusst arbeitenden Teile des Nervensystems haben ursprünglich bewusste Tätigkeit entfaltet; bei niederen Tieren lassen jene Teile des Nervensystems, welche bei höheren Tieren sicher keine Bewusstseinstätigkeit haben, eine und sei es auch nur elementare Bewusstseinstätigkeit hervortreten. 45 - 55 VII. Die psychischen Funktionen der Protisten. Die eines Nervensystems entbehrenden Organismen bekunden offenbar auch Seelentätigkeit. Hierauf bezügliche Anschauungen von Fechner und Faminzyn. Die Ansichten von Bütschli, Wagner. Forel und Soury. 56 - 59 VIII. Bewegungswahl in der Tierwelt auf Grund früherer Erfahrung als psychisches Kennzeichen. Bedeutung der auf Erfahrung beruhenden Bewegungswahl als Kennzeichen psychischer Tätigkeit. Beobachtungen von Metalnikov, Metschnikow. Salomonsen, Stahl. Das Dasein elementarer psychischer Erscheinungen auf den allerniedersten Stufen des Tierlebens. Höhere psychische Tätigkeit ist nur bei den höheren Tieren in den höchsten Zentren des Nervensystems möglich. 60 - 64 IX. Reizbarkeit und zweckmäßige motorische Reaktion im Pflanzenreiche. Untersuchungen von Taliev, Nemez, Haberland, W. Pfeffer u. a. 65 - 69 X. Unterschiede zwischen lebenden Organismen und anorganischen Körpern. Auffassungen von Du Bois-Reymond, O. Hertwig. Danilewski. Die Eigenschaften des Protoplasma und der lebenden Substanz. 70 - 73 XI. Die Lebensvorgänge vom Standpunkte der Mechanisten. Timirjäsew's Charakteristik der Organismen und Anorganismen. Traube's künstliche Zellen. Lebenserscheinungen und Stoffverbrauch. Zweckmäßige Evolution. Danilewski's „Materie höherer Ordnung" und „biogener Äther". Verworn's Biogenhypothese. 74 - 81 XII. Die Unhaltbarkeit der herrschenden Auffassungen des Lebens. Ansichten von Danilewski. Borodin. Faminzyn, Claude-Bernard, Korzinski. 82 - 88 XIII. Das Biomolekül als Grundlage der lebenden Substanz. Die Erscheinung des Stoffwechsels. Fehlen einer Grenze zwischen Lebendem und Totem. Zusammengesetztheit der einfachen Körper. Substanz und Energie. 89 - 93 XIV. Stoffwechsel und Reizbarkeit als Grundeigenschaften der lebenden Substanz. Reizbarkeit und Bewegungsvermögen. Der Organismus als gebundenes physikalisch-chemisches System. Der Energiezustand und die Kohäsion der Moleküle. 94 - 95 XV. Die Beziehungen zwischen Psyche und Leben. Versuche einer Trennung dieser beiden Erscheinungsreihen (Danilewski). Zweckmäßige Reizbarkeit. Reizbarkeit und neuro-psychischo Tätigkeit. Leben und Psyche als Ausdruck einer komplizierten Nerventätigkeit. Das Ineinandergreifen von Leben und Psyche. Das Nervensystem als Träger der neuro-psychischen Tätigkeit und Abhängigkeit der Lebenserscheinungen von demselben. 96 - 105 XVI. Evolution und Zuchtwahl. Milieu und Veränderlichkeit der Organismen. Bedeutung der Übung. Die Entwicklungsfaktoren nach Darwin. Neodarwinismus. Auffassungen von Dantec. Poirier, Nägeli. Pierret. Hochet-Souplet. Neuro-psychische Faktoren. 106 - 114 XVII. Die Bedeutung des aktiven Verhaltens der Organismen zum Milieu. Innenkräfte als Anpassungsfaktoren. Einfluss von Milieu. Elektrizität, Klima, Temperatur, Licht. Anpassungsvermögen der Pflanzen und Tiere. Aktive und passiv-aktive Anpassungen. Zweckmäßig aktives Verhalten der Lebewesen. 115 - 122 XVIII. Die Frage der Vererbung erworbener Eigenschaften. Hypothese von Müller und Weissmann. Versuche über künstliche Epilepsie (Brown-Séquard). Die Vererbung elterlicher Eigenschaften . 123 - 129 XIX. Die Bedeutung der elektrischen Energie in der Natur und im Organismus. Photoelektrische Erscheinungen. Die Schwankungen des elektrischen Gleichgewichts im Tierorgauismus. Elektrizität der Hautdecken. 130 - 135 XX. Das Wesen des Nervenstromes. Hypothesen über die Natur des Nerveustromes (Delboeuf, Arsonval). Die mechanische Theorie (Gaule). Auffassungen von Hering, Rosenbach, Schiff, Tanzi, Mirto. Die Steigerung des Stoffumsatzes bei geistiger Arbeit. Chemische Theorie. Die Unermüdbarkeit des Nerven. Elektrische Theorie (Du Bois - Reymond). 136 - 142 XXI. Die elektrischen Erscheinungen in den Nervenzentren und Nerven. Die Quellen der Körperelektrizität. Befunde Du Bois-Reymond's. Die elektrische Stromschwankung. Ruhestrom und Aktionsstrom. 143 - 146 XXII. Das Verhalten der elektrischen Erscheinungen und des sog. Aktionsstromes zu dem tätigen Nerven. Ist der Aktionsstrom Ausdruck eines physiologisch-tätigen Zustandes im Nerven? Untersuchungen von Herzen, Cybulski und Sosnowski, Boruttau, Wwedenski. Die positive Nachschwankung. Beobachtungen von Dewar und Kendrick, Kühne und Steiner, Chatin. 147 - 153 XXIII. Die elektrischen Erscheinungen am Zentralnervensystem. S e c e n o v 's Versuche. Fehlen von Ruheströmen im unverletzten Hirngewebe (V e r i g o). Beobachtungen von G o t c h und Horsley, Baeck, Mislavski. Die Aktionsströme der Rinde bei peripheren Reizungen. 154 - 164 XXIV. Die physikalischen Grundlagen der nervösen Leitung. Die elektrische Theorie des Nervenstromes. Die Theorie der Energieentladungen. Theorien von Binet-Sanglé und Sollier. 165 - 174 XXV. Die chemische Grundlage der Zellerregung. Auffassung von Bourdot. Verhalten von Kern und Protoplasma. Die tigroide Substanz. Versuche von Daskiewicz, Hodge, Vas, Lambert, L u g a r o , P e r g e n s, Mann, I'ugnat, V a lenz a, Magini, Pick, Luxenburg, Rahmanov. 175 - 182 XXVI. Die Theorie der Nervenentladungen. Der Nervenstrom kein ununterbrochener Vorgang. Kontakt der Neurone. Ursprung der Strombewegung. Die Beziehungen der Nervenelemente unter einander. Chemisch-molekulare Zellvorgänge als Grundlage der Nervenerregung. 183 - 187 XXVII. Die Quellen der Reserveenergie der Nervenzentra. Energieverbrauch im Tätigkeitszustand. Umsetzung von Aussenenergie in den peripheren Nervenapparaten. Energievorräte der Nervenzentra. 188 - 190 XXVIII. Psyche und Leben als Äusserungen der Reserveenergie des Organismus. Elektrochemische Reaktionen bei Freiwerden von Reserveenergie. Der zweckmäßsig-aktive Charakter des Neuro-Psychischen. Parallelismus zwischen Innenerscheinungen und materiellen Prozessen im Gehirn. Das Wesen der subjektiven Zustände. Die qualitative Verschiedenheit der Innenerscheinungen. Enger Zusammenhang zwischen Psyche und Leben. 191 - 194 XXIX. Reizbarkeit und Amöboismus der Nervenzelle. Beweise für die Reizbarkeit der Nervenzelle. Beweglichkeit der Nervenelemente. Beobachtungen über Amöboismus der Nervenzelle (Wiedersheim, Rabl-Burckhardt, Ramon y Cajal u. a.). Formveränderungen der Zelle unter pathologischen Verhältnissen. Die Bewegungen der Dendriten. 195 - 200 XXX. Die Bedeutung der Impulse für den Stoffwechsel und die Ernährung der Nervenzelle. Zusammenhang zwischen Stoffwechsel bezw. Ernährung der Nervenzelle und ihrer Funktion. Ungleiches Verhalten der Nervenzelle gegenüber spezifischen Reizen. 201 - 202 XXXI. Allgemeine Übersicht und Schluss. 208 - 209