DAS GEFÜHLSLEBEN.
IN SEINEN WESENTLICHSTEN ERSCHEINUNGEN UND BEZÜGEN DARGESTELLT VON JOSEPH W. NAHLOWSKY. ZWEITE, DURCHGESEHENE UND VERBESSERTE AUFLAGE. LEIPZIG, VERLAG VON VEIT & COMP. 1884. Aus dem Vorwort zur ersten Auflage. Wenn sich vorliegendes Werk die Aufgabe gestellt hat, in die stille, geheimnisvolle Welt der Gefühle näher einzuführen, hat es damit nicht die Mission des Rufenden in der Wüste übernommen? Keine Zeit war vielleicht weniger angetan zur ruhigen Einkehr ins Innere, als eben die gegenwärtige. Wohl pulsiert in ihr ein regeres Leben; aber kein solches, das den Blick nach innen lenkt, sondern ihn vielmehr nach außen zieht. Schienenwege und Wasserstraßen breiten vor dem bezauberten Auge die Schätze aller Zonen aus; das Gerassel der Maschinen, der Lärm des Marktes, die Parteikämpfe auf der Tribüne und in den Zeitblättern, sie rauschen ununterbrochen an unser Ohr, und der „Geist" der jetzt „am sausenden Webstuhle der Zeit“ sitzt, ist der Spekulation im wissenschaftlichen Sinne keineswegs günstig. Wie soll auch das gegenwärtige Geschlecht unter vielen Zerstreuungen, anlockenden Genüssen und bei dem immer lauteren Toben sozialer Stürme, Zeit und Ruhe finden zur Sammlung und Einkehr?! Aber gerade eine solche Zeit bedarf ihrer auch am meisten, und wohl manches tiefere Gemüt hat sich nie mehr nach ihr gesehnt, als eben jetzt; es wird uns gerne folgen in die stille Siedelei, um zu vergessen, was es drückt und verstimmt, wie auch wir auf diesem neutralen Boden Vergessenheit und damit Ruhe und Erhebung über das, was das äußere Leben Unerquickliches gebracht, gesucht und gefunden haben. Dies war eines der Motive, gerade die Lehre vom Gefühl - dieser innersten Heimat der Seele -- zu behandeln; ein weiteres, daß bisher, nur wenige Ausnahmen abgerechnet, eben das Gefühl das Stiefkind der Psychologen war, dem sie nur so nebenher ihre Pflege angedeihen ließen. Und doch gehören gerade die Gefühle zu den interessantesten der psychischen Erscheinungen. Einerseits wurzelnd in dem Boden der Sinnlichkeit, ragen sie anderseits in die Ätherregion des Geisteslebens hinein, gewissermaßen dessen bunte Flora bildend. An dieser heimlichen Stätte ist der ganzen Menschheit Lust und Leid gebettet; hier ruhen auch die frischen, immer keimenden Triebe, denen reichliches Streben entsprießt. -- Ein tieferer Einblick in ihr Wesen und ihre mannigfachen Verschlingungen ist zumal dem Pädagogen, dem Künstler, dem Volksredner unentbehrlich. Deshalb hat es der Verfasser versucht, diese Partie monographisch durchzubilden und in dieselbe volle Faßlichkeit, approximative Vollständigkeit und ein streng systematisches Gefüge zu bringen, dabei immer die Beziehung dieser besonderen Zustände zum Ganzen des Seelenlebens möglichst im Auge behaltend. Was seinen Standpunkt betrifft, so ist es der realistische HERBART'S; denn derselbe teilt hierin vollkommen die von SCHILLING in dem Vorworte zu seinem verdienstvollen Lehrbuch der Psychologie (Leipzig 1851) ausgesprochene Überzeugung: „HERBART'S psychologische Forschungen sind so tief und gediegen und zeigen sich in ihren Anwendungen so fruchtbar, daß unser Zeitalter an ihnen einen kostbaren, in der Tat aber erst noch zu hebenden Schatz besitzt.“ Zunächst aber handelt es sich auch darum, das Vermächtnis jenes seltenen Geistes einem größeren Kreise zugänglich und nutzbar zu machen. Das hat nun der Verfasser vorderhand mit der Gefühlslehre versucht und deshalb sein Buch so eingerichtet, daß sich dasselbe bei freier und maßvoller Benutzung ebensogut öffentlichen Universitätsvorträgen zu Grunde legen, wie von dem gebildeten Laien als psychologisches Lesebuch gebrauchen, ja selbst von dem Lehrer der Propädeutik den reiferen Schülern der obersten Klasse in die Hand geben läßt, behufs der Belebung und Befruchtung der in den Lehrvorträgen dargebotenen Skizze. Dem Schulzwecke sollte möglichst strenge Begriffsbestimmung und eine durchgreifende systematische Gliederung dienen; das Interesse des Laien dagegen durch vielfach eingestreute Bemerkungen aus dem praktischen Leben, durch nähere Analyse und Verdeutlichung aller einzelnen Gemütszustände an klassischen Exempeln, sowie endlich durch eine freiere und belebtere Darstellung gefesselt werden. Als Auskunftsmittel, diese beiden Zwecke zu vereinigen, wurde darum die Methode befolgt, daß das kritische Material zur Grenzregulierung der beiden Gebiete „Empfindung und Gefühl“ in die Einleitung zusammengefaßt, die eigentliche Gefühlslehre dagegen so eingerichtet wurde, daß der Paragraph durchweg die theoretische Erörterung enthält, während die durch kleinere Schrift ausgezeichneten Anmerkungen den abstrakten Begriff an praktischen Beispielen zu veranschaulichen suchen. Zu letzterem Behufe empfehlen sich besonders die dramatischen Gestalten des größten praktischen Psychologen aller Zeiten, SHAKESPEARE'S, den schon A. W. v. SCHLEGEL den „Herzenskündiger“ nannte. Gelegentlich wurde auch auf SOPHOKLES. HOMER und GOETHE, die sich ebenfalls durch tiefe Seelenkenntnis auszeichnen, hingewiesen. Poetische Gebilde von solcher plastischen Ausführung spiegeln, wie sie selber dem Leben abgelauscht sind, das Leben auch rein und wahr wieder. Sie können demnach, unserer Überzeugung gemäß, dem Psychologen annäherungsweise ähnliche Dienste leisten, wie dem Physiologen die anatomischen Präparate. Der erste (umfassendere) Versuch, der hier angestellt wurde, ist übrigens - wie der Verfasser sehr wohl fühlt - - noch einer beträchtlichen Vervollkommnung bedürftig. Doch selbst in dieser Gestalt wird er manchem Leser (namentlich dem Kunstjünger, dem diese Sphäre des Seelenlebens am nächsten liegt) vielleicht nicht unwillkommen sein und auch dem jüngeren Lehrer mitunter manchen Wink bieten, klassische Philologie, Geschichte und neuere Literatur mit der philosophischen Propädeutik in engere Verbindung zu bringen. Gelten vorstehende Bemerkungen mehr der Methode und Form, so mag betreffs der Sache selbst hier noch erwähnt werden, daß der Leser in vorliegendem Buche, neben der sorgfältigen Benutzung der vorzüglichen Arbeiten von DROBISCH, WAITZ, LOTZE, DOMEICH u. A., auch selbständige Untersuchungen nicht vermissen wird, wie z. B. in der Partie von den sinnlichen Gefühlen, den Koeffizienten des ästhetischen Totalgefühls, den religiösen Gefühlen, der Liebe, der Stimmung und an vielen anderen Orten. Selbst wo diese Schrift, wie dies besonders bei der Behandlung der formellen und der intellektuellen Gefühle geschah, sich der überaus dankenswerten Vorarbeit von Th. WAITZ enger anschloß, mag ihre Eigenart noch immer kenntlich sein. Spätherbst 1861. Vorwort zur zweiten Auflage. Die Stimme des Verfassers ist doch nicht verhallt, gleich jener des Rufenden in der Wüste, sie hat in manch' empfänglichem Gemüte Nachklang gefunden! Dafür bieten demselben beruhigende Bürgschaft sowohl die durchweg anerkennend lautenden Urteile der Presse, als auch die vielen Zitate, welche aus seinem Buche in andere Schriften übergegangen sind. Besonders erfreulich war aber demselben der Umstand, die ehrende Aufforderung zu erhalten, eine neue Auflage des vorliegenden Werkes, wie auch seiner Ethik, zu veranstalten. Der Verfasser leistete trotz seiner vorgerückten Jahre der MD ihn ergangenen Aufforderung um so freudiger Folge, als sie ihm die willkommene Gelegenheit bot, hier und da die bessernde Hand anzulegen. Namentlich der kritischen Einleitung wurde eine besondere Sorgfalt durch eine vollständige Neubearbeitung gewidmet. Das Motiv hierzu lag in dem Umstände, daß, obgleich eine Autorität wie M. W. DROBISCH (in der „Wissenschaftlichen Beilage zur Leipziger Zeitung“ vom 3. Juli 1862 Nr. 53) sich für das vom Verfasser aufgestellte Regulativ, die beiden so vielfach verwechselten Begriffe „Empfindung“ und „Gefühl“ auseinander zu halten, ausgesprochen, nicht minder auch später EWALD HECKER in seiner geistreichen Schrift: „Die Physiologie und Psychologie des Lachens und des Komischen“ (Berlin, Dümmler 1873) eben diesen Punkt (S. 25) als besonderes Verdienst des Verfassers hervorgehoben hat, man der von mehreren Seiten gerügten falschen Terminologie nach wie vor nicht bloß in schönwissenschaftlichen, sondern auch in wissenschaftlichen Werken auf Schritt und Tritt begegnet. Dem Belletristen wäre es allerdings minder zu verargen, wenn er mit Vorliebe für die zartesten Regungen des Gefühlslebens sich des Ausdrucks „Empfindung“ bedient; mag ihm nun dieser gewissermaßen zarter, feiner erscheinen als der des „Gefühls“, der an das konkretere Tasten gemahnt, oder mag ihm vielleicht hierbei mehr oder minder klar die in jenem Worte liegende Hindeutung auf ein „Finden“, auf das Entdecken eines inneren Fonds, vorschweben, oder sich ihm nebenbei die verschiedenen Zusammensetzungen, wie: „vor-“, „mit-“, „nach-“, „an-“empfinden, besonders empfehlen, wobei bemerkt werden mag, daß in dem Worte „anempfinden“, sich leicht in den Gemütszustand eines Zweiten hineinfinden und sich seiner Gemütsart anschmiegen, unleugbar etwas Sinniges und Anheimelndes liegt. Anders aber steht es um die Wissenschaft. Da gilt in erster Reihe die Präzision der Begriffe und die Fixierung einer denselben angemessenen Terminologie. Deshalb empfahl es sich, sowohl auf indirektem als direktem Wege, eine noch strengere Abgrenzung der beiden mehrgenannten Begriffe nach allen Richtungen durchzuführen, wobei sich nebenher auch die Gelegenheit ergab, von dem und jenem Punkte aus orientierende Ausblicke auch in manches andere wichtige Gebiet des Seelenlebens zu eröffnen. Auch der §. 23 wurde reicher und feiner ausgestattet. Der Verfasser gelangt nun zu einem Punkte, der ihn nötigt etwas weiter auszuholen. Bei Erörterung der ästhetischen Gefühle als Elementar-, Gruppen- und Totalgefühle oder, was auf dasselbe hinausläuft, bei dem Hinweise auf die einzelnen Elemente und Momente des Schönen sprach derselbe im §. 18 der ersten Auflage das Bedauern aus, daß sich zur Zeit nur wenige zerstreute Anläufe zu einer vollständigen Feststellung der gesamten ästhetischen Grundverhältnisse vorfanden. Das ist nun seither anders geworden. Die Morphologie des Schönen hat mittlerweile manche anerkennenswerte Bereicherung gefunden, deren hier zu gedenken umsomehr als eine Pflicht literarischer Gerechtigkeit erscheint, als das vorliegende Werk einen teilweise abweichenden Standpunkt einnimmt. Außer der kritischen Schrift von THEODOB VOGT: „Form und Gehalt in der Ästhetik“ (Wien 1865) und der interessanten ästhetischen Monographie von HERMANN SIEBECK: „Das Wesen der ästhetischen Anschauung“ (Berlin 1875), kommen hier vor allem zwei umfangreiche Hauptwerke in Betracht: die „Allgemeine Ästhetik als Formwissenschaft“ (2 Bände) von ROBERT ZIMMERMANN (Wien 1865) und die „Ästhetik“ von KARL KÖSTLIN (Tübingen 1869). Jedes dieser Werke hat seine besonderen Vorzüge. Das erstere imponiert durch seine strenge Führung und seinen architektonischen Aufbau, das andere bietet für die Morphologie des Schönen eine überaus reiche Fülle von Detail. Beide eben genannten Hauptwerke deklarieren die Ästhetik als Formwissenschaft, nur mit dem Unterschiede, daß ersteres exklusiv die Form betont und bei Beurteilung des Schönen jede Rücksicht auf den Gehalt abweist, während letzteres neben der Form auch dem Gehalt eine entsprechende Geltung zugesteht. Der Verfasser des ersteren Werkes hält mit solcher Ausschließlichkeit an der Form fest, daß er bereits im ersten historischen Teile aus dem Grundgedanken, das Schöne sei einzig und allein in der Form zu suchen und der Gehalt sei für die ästhetische Beurteilung völlig gleichgiltig, die äußerste Konsequenz zieht: „Der erhabenste Inhalt macht das Werk nicht zum Kunstwerk, der frivolste Stoff nimmt ihm nichts am ästhetischen Werte“ (Geschichte der Ästhetik S. 512). Diese Folgerung ist, sobald man die ausschließliche Geltung der Form als Axiom annimmt, vom rein formal-logischen Standpunkte aus unanfechtbar, ihr erster Teil auch sachlich begründet, denn der erhabenste Gedanke ist ohne gediegene formelle Ausgestaltung noch lange kein Kunstwerk; gegen den zweiten Teil derselben regt sich aber das nicht unbegründete Bedenken, ob trotz der noch so gelungenen und ansprechenden Form, ein Werk von frivolem Inhalt, mithin ein Geistesprodukt, das nicht an die ideale Seite des Menschen, sondern an niedere, sinnliche Triebe appelliert, füglich das ehrende Prädikat „schön“ beanspruchen dürfe, sondern vielmehr nur allenfalls als „pikant“ oder „reizend“ zu bezeichnen sei? -- Die jene schroffe Konsequenz mildernde Bemerkung, die bald hierauf folgt: „Das vollkommenste Werk ist freilich, welches nach beiden'' (Form und Inhalt) vollendet ist“, können wir nur billigen. Der andere Hauptrepräsentant der neueren Ästhetik (KÖSTLIN) betont gleichfalls in erster Reihe die Form als ein wesentliches Hauptmoment der ästhetischen Beurteilung. Aber obgleich derselbe immer wieder, so namentlich in dem für die Auffassung des Ganzen wichtigen Abschnitte: „Abschluß der Lehre vom ästhetischen Objekt", so z.B. S. 315 darauf zurückkommt: „Nur Formvollendung ist das ästhetische Vollgenügende", hebt er doch andererseits gleich auf der nächsten Seite (316) hervor: „Das Recht der Form" sei jedoch „nicht etwa ein Vorrecht, das ihr Anspruch gäbe auf den Inhalt als etwas Gleichgiltiges herabzusehen." - Dann (S. 317) heißt es weiter: „Und auch abgesehen von der Unentbehrlichkeit eines menschlich ansprechenden Stoffes im ästhetischen Gebiete, wäre es zudem ja selber wieder ein Formfehler, wenn die Form allein das Ganze sein wollte; die Form ist ,Gestaltung' eines Gegenstandes, eines Inhalts, eines Stoffes; sie kann daher nur gewaltsam von ihm getrennt werden, sie kann ohne Gegenstand nur hohl und leer, ungediegen und unlebendig, wie eine Schale ohne Kern, somit selbst nur unschön erscheinen." Womöglich nochentschiedener spricht er sich (S. 319) dahin aus: Da die Form vom Inhalte ebensowenig getrennt werden könne, wie dieser von ihr, „sollte weder die Theorie noch die Praxis auf den Gedanken geraten, daß es im ästhetischen Gebiete rein auf die Form ankomme." Zum Überfluß betont er es (S. 323) noch besonders: „Kurz auch für eine so reine Formkunst, wie die Musik, ist in jeder Beziehung nur Heil in der Harmonie zwischen Form und Inhalt, in dem Streben beides harmonisch ineinander zu bilden." Und damit können wir uns nur einverstanden erklären. Sobald nämlich von der Form die Rede ist, drängt sich von selbst und unabweisbar der korrelate Gedanke an ein Geformtes auf, nennen wir es nun Stoff, Inhalt, Gehalt, Grundgedanke, Motiv, Sujet oder mit LOTZE in sinniger Weise „individuelle Seele"; denn es bildet im Werdeprozeß des Schönen die momentane Geistesverfassung des Künstlers die treibende Kraft, das Lebensprinzip, das nach Darbildung in einer angemessenen Form ringt. Vernachlässigung des einen oder des anderen der beiden Faktoren kann für die Kunst nur beeinträchtigend sein. Vernachlässigung der Form müßte unausbleiblich zum rohen Naturalismus und zu dilettantenhafter Stümperei führen. Die gänzliche Indifferenz gegeneinen der künstlerischen Darstellung würdigen Inhalt (einen solchen nennen wir eben „Gehalt"), mit anderen Worten das ausschließliche Betonen und Berücksichtigen des rein Technischen (der sogenannten „Mache") in der Weise, daß nur auf das Wie und nicht zugleich auf das Was, das zur künstlerischen Darbildung gelangt, geachtet würde, könnte hingegen leicht zur Verflachung und allmählichen Verwilderung in der Kunst hinführen. Die Symptome davon sind in der Gegenwart, wenn auch nur vereinzelt, nicht schwer zu entdecken. Wie oft müssen wir es z. B. heim Anblick so mancher Gemälde bedauern, daß so viel Studium und Übung in Zeichnung und Kolorit an die Darstellung eines platten, wohl gar trivialen Gedankens verschwendet ward, und wie viele Sujets im modernen Roman und Drama sind des Aufgebots tüchtig durchgebildeter stilistischer Fertigkeit wert? Soll SCHILLER'S bekannte Apostrophe an die Künstler: „Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, Bewahret sie! Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben!“ zur vollen Geltung gelangen; soll die Kunst uns über die gemeine Wirklichkeit erheben, soll sie veredelnd und erläuternd auf uns wirken: so müssen eben die Künstler in ihrer Darstellung sich vor allem selber auf ein höheres Niveau stellen und uns zu sich emporheben. Jener hohen Mission werden aber selbstverständlich dieselben nur dann vollständig gewachsen sein, wenn sie, neben einer tüchtigen Schulung in ihrem besonderen Fache, zugleich mit einer tiefer angelegten allgemeinen, namentlich humanistischen Bildung ausgerüstet, so auf der Höhe ihrer Zeit stehen, wie beispielsweise EURIPIDES, LESSING oder GOETHE auf der Höhe der ihrigen standen. Deshalb wurde bei der Erörterung der ästhetischen Gefühle außer der Formvollendung, die allerdings in erster Reihe in Betracht kommt, auch ein die höheren Lebensinteressen berühren der Gedankeninhalt (Gehalt) besonders betont. Wir hatten nämlich in den §§. 17, 18, 19 unser Augenmerk nur auf eine besondere Art des Schönen, das Kunstschöne als spontanes Erzeugnis des Genius, gerichtet und da, wenn auch nur gerade da, erscheint die Rücksichtnahme auf den Gedankengehalt unabweisbar. Das dort Behauptete, sowie die in der Anmerkung zu §.19 aufgestellte Definition des ästhetischen Totalgefühls' ist selbstverständlich rein in diesem engeren Sinne aufzufassen. Wir lassen uns nämlich keineswegs beikommen, für jegliche Art des Schönen einen ideellen Gehalt zu verlangen. Das Schöne im weiteren Sinne des Worts kann, ohne der Erfahrung Gewalt anzutun, eben nicht anders definiert werden als: Schön im allgemeinen ist jedes Objekt, das durch die besondere Art seiner Erscheinung, d. h. durch seine besondere Form, uns ein in der letzteren begründetes, von jedem fremden Nebeninteresse unabhängiges Wohlgefallen abnötigt. In dieser Sphäre ist eben die Form das allein Ausschlaggebende. So kann beispielsweise bei dem schönen Naturobjekt von einem ideellen Gehalte selbstverständlich nicht die Rede sein; ein solcher ließe sich höchstens mittels weit hergeholter teleologischer Erwägungen in dasselbe „hineingeheimnissen". Das Gleiche gilt von den lediglich durch ihre Form anmutenden, der wechselnden Mode unterworfenen Erzeugnissen der Industrie zur freundlichen Ausstattung unserer Wohnungen, den mancherlei Schmuckgegenständen, den niedlichen Nippsachen der Boudoirs u. dgl. mehr. Warum wir uns aber in jener Erörterung die vorerwähnte Beschränkung auferlegten, ist unschwer zu erkennen; es war dies durch die Aufgabe des Buches geradezu geboten. Diese bestand augenfällig nicht darin, eine erschöpfende Theorie des Schönen und seiner Bedingungen zu bieten, es handelt sich vielmehr einzig und allein um eine psychologische Analyse des Schönheitsgefühls. In der Natur der Analyse als solcher ist es aber begründet, daß ihr immer ein durch feste Umrisse begrenztes Objekt zu Grunde gelegt werden muß. Das mußte für unseren Zweck überdies ein solches sein, welches Gelegenheit bieten konnte, die Kompliziertheit des Schönheitsgefühls zu beleuchten und die vielerlei Quellen und Bächlein nachzuweisen, welche vereinigt dem vollendet Schönengegenüber auf ein empfängliches Gemüt ihre überwältigende Machtausüben. Daher der ganze Gang der Entwickelung, die sukzessive Darstellung der Elemente und Momente des Kunstschönen, wie sie sich beispielsweise einem Historiengemälde oder Drama gegenüber geltend machen, und deren schließliche Zusammenfassung und Konzentration in dem ergreifenden Totaleffekte. - Wer sich dieses Ziel des Verfassers und den vielleicht noch späterhin verwertbaren Ertrag jener Distinktionen auf psychologischem Gebiete vor Augen hält, wird ihm gewiß seine Sonderstellung zu gute halten. Und so mag denn das Büchlein getrost seine neue Wanderung antreten, sich seine alten Freunde erhalten und neue gewinnen! Graz, nach Ostern 1884. Dr. J. W. Nahlowsky, k. k. Regierungsrat und ord. Universitätsprofessor i. K, Inhalt. Seite Einleitung. 3 Erstes Buch. Das Gefühlsleben im allgemeinen. §. 1. Die drei Hauptformen des psychischen Lebens (das Vorstellen, Gefühl, Streben). 39 §. 2. Wesen und Ursprung des Gefühls im allgemeinen. 41 §. 3. Einteilung der Gefühle. 44 §. 4. Das Gefühl in seinen Grundformen, als Lust und Unlust, Freude und Leid im weiteren Sinne des Wortes. 47 §. 5. Die sogenannten gemischten Gefühle. 50 §. 6. Die Gemütszustände, als wesentlich mitbedingt durch die ursprüngliche Einrichtung und die Metamorphosen des Leibes. 53 §. 7. Die Beziehungen des Gefühls zu den übrigen Seelentätigkeiten. 57 Zweites Buch. Das Gefühlsleben im besonderen, d. h. in seinen Einzelerscheinungen. Erster Abschnitt. A. Die formellen Gefühle. a) Die allgemeinen, mehr elementaren Formalgefühle. §. 8. Das Gefühl der Beklemmung und Erleichterung, der Anstrengung und Leichtigkeit, des Suchens und Findens, des Gelingens und Mißlingens, der Harmonie und des Kontrastes, der Kraft und der Schwäche. 69 b) Die speziellen und mehr komplizierten Formal-Gefühle. §. 9. Die Erwartung. 76 §. 10. Die Hoffnung - Besorgnis - Überraschung. 80 §. 11. Die Gemütslage des Zweifelnden. 85 §. 12. Die Langeweile. 90 §. 13. Die Unterhaltung (Erholung). 94 Zweiter Abschnitt. B. Die qualitativen, d. h. an einen bestimmten Vorstellungsinhalt gebundenen Gefühle. a) Die niederen oder sinnlichen Gefühle. §. 14. Vorbemerkungen. 99 §. 15. Subjektive Wirkung der einzelnen Farben und Töne und deren Erklärung. 102 b) Die höheren oder ideellen Gefühle. §. 16. Die intellektuellen Gefühle (das Wahrheits- und Wahrscheinlichkeitsgefühl) . 117 §. 17. Die ästhetischen Gefühle (Vorerörterungen). 120 §. 18. Das ästhetische Elementar- und Gruppengefühl. Die einzelnen Elemente und Momente des Schönen. 127 §. 19. Das ästhetische Totalgefühl und seine Koeffizienten. 138 §. 20. Die moralischen Gefühle. 144 §. 21. Die religiösen Gefühle. 150 Anhang. Vorbemerkung. 155 Erste Abteilung. Gemütszustände, die mit dem Streben (Verlangen und Verabscheuen) innigst zusammenhängen. §. 22. a) Das Mitgefühl. 156 §. 23. b) Die Liebe. 161 Zweite Abteilung. Gemütszustände, die wesentlich auf organischer Grundlage beruhen. §. 24. a) Die Gemütsstimmung. 171 §. 25. b) Die Gemütserschütterung oder der Affekt. 178