Grundlegung der Psychologie.
Nebst einer Anwendung auf das Seelenleben der Thiere, besonders die Instincterscheinungen. Von Dr. Theodor Waitz. Hamburg und Gotha. Friedrich und Andreas Perthes. 1846 Vorwort. Gestehen wir es uns endlich ein, daß unsere mit Spekulation aller Art vielgequälte Zeit des Spekulierens müde ist! Zwar kann dies dem ernsten Forscher kein Grund sein seine Bemühungen aufzugeben, denn die Tatsache des tausendfachen Mißlingens enthält keinen Beweis der Notwendigkeit desselben aber sie muß den Sehenden zunächst zu der Frage veranlassen, ob nicht etwa die Ursache davon in der ganzen Art, wie die Forschung angestellt wurde, zu suchen sei. Und in der Tat es ist nicht schwer diese Ursache zu finden: sie liegt einzig und allein darin, daß jede Spekulation bestimmte Begriffe voraussetzt ohne zu wissen woher sie diese selbst habe und wie sie zu ihnen gelangt sei. Nicht Kritik und noch weniger Konstruktion, auch keine kombinierte Anwendung beider kann zum gewünschten Ziele führen, sondern einzig die Entwickelungsgeschichte des geistigen Lebens ist im Stande dies zu leisten. Diese an sich so leichte Besinnung fehlt unserer Zeit gänzlich. Sie ist es welche die vorliegende Schrift recht lebendig machen und festhalten lehren Soll. Wer die Grundlegung einer Wissenschaft gibt, von dem erwartet man mit Recht daß er in der Wissenschaft selbst bereits so weit vorgedrungen sei, daß die Hauptansichten über dieselbe ihm unzweifelhaft feststehen. Daß dies bei mir in der Tat der Fall ist wird für denjenigen leicht zu erkennen sein der selbst sich um psychologische Bildung eifrig bemüht hat. (Er wird leicht da Systematik finden wo Andere nur aphoristische Andeutungen entdecken, doch warnen wir vor zu voreiliger .Deutung, Gleichfalls muß als mahnende Warnung im Voraus erinnert werden, daß Wert und Brauchbarkeit einer Grundlegung namentlich in Bezug auf das was in ihr hypothetisch bleibt bloß erst nach der Darlegung der ganzen Wissenschsft selbst beurteilt werden darf. Denn der Maßstab für die Güte einer .Hypothese kann nur durch die vollständige Entwickelung ihrer Konsequenzen gegeben werden. Mit Kant kann ich die Aufgabe der Philosophie nur darin finden eine Wissenschaft aufzustellen welche den Grund aller Erfahrung und diese aus jenem begreiflich mache. Alle andere Spekulation mußich von vornherein für leere Spekulation erklären. Was ich in dieser Schrift versucht habe geht in Kurzem dahin, die Psychologie auf unzweifelhafte physiologische Tatsachen zu gründen, damit sie und mitihr die Philosophie überhaupt in Zukunft unabhängig werde von den Streitigkeiten philosophischer Schulen, die sich nur in vagen Allgemeinbegriffen herumtreiben, über welche sich leicht streiten läßt, weil sich jeder etwas Anderes bei ihnen denken darf, so lange durch keine vorausgegangene Entwicklungsgeschichte der Unterschied fehlerfreier und verfehlter Begriffsbildungen festgestellt ist. Die Spekulation welche sich nicht unmittelbar auf die (Erfahrung einlaßt wird ewig ein Gegenstand des Streites sein und bleiben müssen. Wenn dieser erste hauptsächlich kritisch vorarbeitende Teil meiner Psychologie irgend einer Empfehlung bedarf, so möchte ich sie den Naturforschern empfehlen, nicht philosophischen Sectirern, von denen ich sie am liebsten ganz ignoriert sähe. Unter den Physiologen war es hauptsächlich der, welcher vom krassen Materialismus am weitesten entfernt ist, dessen Ansichten uns, schon wegen der großen und wohlbegründeten Anerkennung die sie überall gefunden haben, besondere Berücksichtigung zu verdienen schienen. Wir meinen Joh. Müller. Ueberall ist er am vorsichtigsten und gibt der psychologischen Forschung die besten Anhaltspunkte. Die meisten unserer Argumente gelten, wie man leicht bemerken wird, den Naturforschern und fast nur gegen Ende des ersten Teils unserer Untersuchung sind wir auf Gegenstände gekommen, die den Physiologen vielleicht wenig interessant oder gar überflüssigscheinen mögen, weil sie gegen philosophische Ansichten gerichtet sind die in unserer Zeit herrschen. Wo wir gegen Meinungen polemisierten deren Gewährsmänner hinreichend bekannt sind, wird man es billig finden, daß wir keine Zitate beigesetzt haben. —Üeber das Seelenleben der Tiere mußte sich unsere Untersuchung darauf beschränken kurze Andeutungen über den Weg zu geben welchen die gründliche Forschung über diesen Gegenstand betreten muß, da es für jetzt Selbst am kritisch gesichteten und geordneten Material hierzu trotz der vielen dahin einschlagenden Schriften so gut als gänzlich fehlt. Marburg den ersten Mai 1846. Inhalt Seite Einleitung. Die Philosophie und das gemeine Denken. l Die Aufgabe der Psychologie im Allgemeinen. 8 Die verschiedenen Stadien derselben parallel denen der Naturwissenschaften. 11 Von der Seele und ihren frühesten Zuständen in ihrer Wechselwirkung mit dem Nervensystem im Allgemeinen. Ansichten der Naturforscher von der Psychologie: 1) Das Gehirn als Seele. 16 2) Das Gehirn als Organ der Seele. 20 Materialismus und Spiritualismus — die Naturwissenschaften und die moderne Philosophie. 26 Die Seele als Zentralwesen des Leibes. 28 Das Vorstellen als einfache Seelenthätigkeit. 36 Empfindung als Zustand des erregten Nerven und Perception derselben durch die Seele. 41 Zentralwesen des Organismus von niederer Ordnung. 49 Die Empfindung als Störung des indifferenten Lebensverlaufes. 51 Bewegungsreactionen werden durch die Seele vermittelt. 55 Residuen früherer Zustände in den Nerven und in der Seele. 56 Über die Annahme eines sensorium commune. 61 Vom Gemeingefühl als Gesamtempfindung. 64 Die einzelnen Empfindungen von Lust und Schmerz und die specifischen Sinnesempfindungen reifen sich los vom Gemeingefühl, werden aber durch dasselbe appercipirt. 70 Diese Apperception ist ©rund der Einheit des empirischen Ich darf aber mit keiner Spur von Bewußtsein verbunden gedacht werden. 77 Beschränkter Umfang des Gemeingefühls beim Erwachsenen. 79 Rückblick und Vorblick auf die fernere Aufgabe einer Grundlegung der Psychologie. 80 Kritik der ursprünglichen psychologischen Thatsachen welche durch die specifischen Sinnesempfindungen gegeben werden. Jede Primitivfaser des Sehnerven kann nur einen einzigen Eindruck auf einmal auffassen. 82 Ursprünglich werden nicht Flächen gesehen. 86 Die Vorstellung der Continuität wird nicht unmittelbar durch den Gesichtseindruck gegeben. 89 Ebenso wenig die Vorstellungen von Lage und Größe, Entfernungen, Gestalten, Bewegung und Ruhe. 90 Die Raumvorstellungen werden nicht durch den Muskelsinn gebildet. 92 Das Nachaußensetzen der Gesichtsvorstellungen ist nichts Ursprüngliches. 95 Scheidung des psychologischen Gebietes vom physiologischen in Beziehung auf die Sinneserscheinungen. 100 Dauer (Zeit) und Richtung des Schalles sind nichts in der Gehörsvorstellung ursprünglich Gegebenes. 102 Rhythmen, Pausen, Intervalle und Harmonien können nicht unmittelbar gehört werden. 103 Kritik der ursprünglichen Tatsachen welche Geschmack, Geruch und Tastsinn liefern. 106 Schluß der Kritik der psychologischen Tatsachen. 109 Die Psychologie als philosophische Grundwissenschaft. Was zur Begründung philosophischer Erkenntnis erfordert wird. 111 Sie kann nur gebaut werden aus die Erforschung der Bildungsgeschichte unserer Begriffe. 1l2 Ansicht der modernen Philosophie von diesem Standpunkte aus. 115 Beseitigung der Haupteinwendungen die sich gegen die in Anspruch genommene Stellung der Psychologie machen lassen 118 Beseitigung der verbreitetsten psychologischen Vorurteile. Raum und Zeit als apriorische Formen der Sinnlichkeit. 126 Die Hypothese von den Seelenvermögen. 128 Die angeborenen geistigen Anlagen. 136 Einleitung. Nötige Vorsicht bei der Betrachtung des Seelenlebens der Thiere. 139 Annahme der durchgängigen Gesetzmäßigkeit in demselben wie in dem des Menschen. (Vgl. S. 10.) 140 Die Tierseele im Allgemeinen. Die tierische Seele überhaupt als Centralwesen des Organismus. 142 Die ursprünglichen Unterschiede des Menschen vom Tiere in der Empfindung, der Perception und deren Residuen, in den komplizierten Vorstellungen und der Sprachfähigkeit 145 Die Untersuchung über einzelne Seelenvermögen und über die Perfectibilität der Tiere im Allgemeinen kann zu nichts führen. 155 Der I n s t i n c t. Der Instinct im Allgemeinen, Unterschied desselben von den Reflextätigkeiten. 158 Einfache und komplizierte Instincterscheinungen . 164 Nahrungsinstinct. 167 Nähere Begriffsbestimmung des Instinctes. 176 Die Kunsttriebe. 180 Von der höheren geistigen Entwickelung der Tiere. Wonach der Grad der geistigen Entwickelung des Tieres im Allgemeinen zu schätzen ist. 185 Das Vorstellungsleben der Tiere, insofern es den Instinct modifiziert. 187 Analyse einiger komplizierterer geistiger Tätigkeiten der höheren Tiere. 192 Vom äußeren Ausdruck der inneren Zustände bei den Thieren. 199 Von den Gemütszuständen der Tiere. 201