Die Hauptgesetze des
menschlichen Gefühlslebens
Eine experimentelle und analytische Untersuchung
über die Natur und das Auftreten der Gefühlszustände nebst einem
Beitrage zu deren Systematik
von
Alfr. Lehmann
Dr. phil., Dozent der experimentellen Psychologiean der Universität Kopenhagen.
Mit einem Farbendruck und fünf photolithographierten Tafeln.
Von der kgl. dänischen Akademie der Wissenschaften mit der goldenen Medaille preisgekröntes Werk.
Unter Mitwirkung des Verfassers übersetzt
von
F. Bendixen.
Leipzig,
O. R. R e i s l a n d.
1892.
Vorrede.
Es waren ursprünglich ästhetische Interessen, die mich bewogen, im Frühjahr 1885 eine eingehende
Untersuchung der Gesetze anzufangen, die das menschliche Gefühlsleben beherrschen.
Diese Untersuchungen, die jetzt — wenngleich in völlig veränderter Gestalt — den wesentlichen Inhalt
des zweiten Hauptabschnittes dieses Buches: „Die speziellen Gesetze der Gefühle", bilden, waren
fast abgeschlossen, als im Februar 1887 von der Königlich dänischen Gesellschaft der Wissenschaften
eine Preisaufgabe folgenden Inhalts ausgesetzt wurde: „Während es der Psychologie der jüngeren Zeit
nach und nach gelungen ist, die Untersuchungen über das menschliche Vorstellungsleben zu einem
relativen Abschlusse zu bringen, so daß sich sagen läßt, hier sei eine, wenngleich abstrakte Grundlage
gewonnen, um die sich alle vereinen können, um weiter zu bauen, gilt Ähnliches nicht mit Bezug
auf das Gefühlsleben. Hier herrscht noch Uneinigkeit sogar über die fundamentalsten Fragen, und
nur ausnahmsweise hat dann und wann ein Forscher den Versuch gemacht, eine durchgeführte
systematische Darstellung von sämtlichen menschlichen Gefühlen oder auch nur von deren weniger
zusammengesetzten Formen zu geben.
Nachdem die Untersuchungen der neueren Zeit größere Klarheit auf die enge Beziehung geworfen
haben, in welcher das Gefühl stets zur Vorstellungsthätigkeit steht, scheinen indes günstigere
Bedingungen für eine Analyse auf dem erwähnten Gebiete erzielt zu sein, und die Akademie stellt
deshalb folgende Aufgabe: Gewünscht wird eine kritische Untersuchung der Natur und des
Auftretens der Gefühle und ein auf die gewonnenen Ergebnisse begründeter Beitrag zu einer
Systematik der Gefühle."
Da eine Lösung dieser Aufgabe auf natürliche Weise auch die Untersuchungen umfassen mußte, mit
denen ich mich längere Zeit hindurch beschäftigt hatte, beschloß ich, meine Arbeit dergestalt zu
erweitern, daß dieselbe als eine Beantwortung der gestellten Aufgabe auftreten könnte. Es zeigte
sich jedoch bald, daß die von der Aufgabe verlangten Untersuchungen über die Natur der Gefühle
zu Resultaten führten, die eine vollständige Umarbeitung des bereits Vorliegenden erheischten,
und da dieser Umstand nicht von Anfang an in Anschlag gebracht war, erwies es sich, daß das Werk
als Totalität allzu groß angelegt war, um binnen der zur Ausführung gestatteten Zeitfrist abgeschlossen
werden zu können. Die Gestalt, in welcher dasselbe im Oktober 1888 an die Akademie eingesandt
wurde, war deshalb in mehreren Beziehungen mangelhaft. Trotz der verschiedenen, im Berichte des
erwählten Richterausschusses scharf hervorgehobenen Mängel wurde das Werk jedoch für des
ausgesetzten Preises, der goldenen Medaille der Akademie, würdig erklärt, und ich betrachtete
dies als eine Aufmunterung, auf der eingeschlagenen Bahn fortzuschreiten und meine Untersuchungen
möglichst zu vervollständigen. Hierbei waren vorzüglich drei Punkte zu beachten.
Erstens hatte ich durchaus nicht den interessanten Beitrag berücksichtigen können, den die neueren
Untersuchungen über die Hypnose zum Verständnisse unseres Gefühlslebens geliefert haben, da die
Zeit gar zu karg bemessen war, um in die schon damals umfangsreiche hypnotische Literatur gründlich
einzudringen. Meine späteren Studien auf diesem Gebiete brachten mich indes bald zur Erkenntnis,
daß die für das Gefühlsleben wichtigen Punkte sich nicht isoliert behandeln ließen, und ich zog es
deshalb vor, in einem selbständigen Werke (Die Hypnose und die damit verwandten normalen
Zustände, Leipzig 1890) eine kurzgefaßte Darstellung der wichtigsten hierhergehörenden Probleme
zu geben. In vorliegender Schrift konnte ich mich deshalb darauf beschränken, an dem für die
Gefühlslehre bedeutungsvollen Punkte auf „Die Hypnose" zu verweisen.
Ferner hatte ich bei der Behandlung der körperlichen Äußerungen der Affekte den Plan zu einer
experimentellen Untersuchung dieser Erscheinungen entworfen, es gebrach mir damals aber sowohl
an Zeit als an Mitteln zu dessen Durchführung. In der an die Akademie eingelieferten Arbeit hatte
ich mich deswegen mit einer historisch-kritischen Behandlung des in der Literatur über die Sache
Vorliegenden begnügen müssen. Durch wohlwollende Unterstützung von Seiten des
„Carlsberger Fonds", für welche ich dessen Direktion hiermit meinen ergebensten Dank abstatte,
wurde es mir indes im Herbste 1890 ermöglicht, meinen ursprünglichen Plan durchzuführen.
Die ziemlich bedeutungslosen kritischen Betrachtungen haben darauf dem größeren Abschnitte:
„Experimentelle Untersuchung über die körperlichen Äußerungen der Affekte" den Platz weichen
müssen, wodurch das Buch zweifelsohne an Wert gewonnen hat, sollte sich auch einiges der aus den
Versuchsergebnissen abgeleiteten Folgerungen als unhaltbar erweisen.
Endlich hatte der von der Akademie erwählte Richterausschuß, namentlich die Herren Professoren
Höffding und Kroman, mich an verschiedenen Punkten auf Fehler und Mängel in der Darstellung der
Probleme aufmerksam gemacht.
Diese Bemerkungen — für die ich den beiden genannten Herren hiermit meinen Dank ablege — habe
ich natürlich in möglichst weitem Umfange berücksichtigt, indem ich meine Ansicht teils verändert, teils
näher begründet habe. Außerdem habe ich, soweit möglich. die übrigens nur wenigen, in den letzten
Jahren erschienenen Schriften berücksichtigt; diese haben mich jedoch nur zu kleinen Hinzufügungen
dann und wann bewogen 1). Außer der oben erwähnten Hinzufügung des Abschnittes von den
experimentellen Untersuchungen habe ich überhaupt nur eine einzige eingreifende Abänderung
unternommen. Die der Akademie zugestellte Schrift wurde mit einer weitläufigen methodologischen
Untersuchung eingeleitet, deren größter Teil für den Hauptstoff ohne Belang war. Auf ein Viertel ihres
ursprünglichen Umfanges reduziert, bildet dieselbe jetzt die Einleitung vorliegenden Werkes.
Es ist natürlich, daß ein Werk, das auf diese Weise zu sehr verschiedenen Zeiten unter fortwährend
fortgesetzten Studien entsteht, Spuren dieser Entstehungsweise tragen muß. Dies wäre zwar durch eine
neue Umarbeitung des ganzen Buches zu vermeiden gewesen, die zunächst formellen Verschiedenheiten der
einzelnen Abschnitte schienen mir jedoch nicht groß genug, um ein so radikales Verfahren zu rechtfertigen,
das meine Zeit noch auf lange Dauer vollständig beansprucht haben würde. Ich habe es deshalb vorgezogen,
durch diese Aufschlüsse die formellen Mängel zu erklären und den Leser wegen derselben
um Nachsicht zu bitten.
1) Leider ist die höchst interessante und eingehende Arbeit Dessoirs: „Über den Hautsinn", mir erst in die Hände gekommen,
nachdem der Druck meines Buches beinahe beendigt war, so daß ich dieselbe nicht habe berücksichtigen können.
So viel ich bis jetzt gesehen habe, stimmen die Resultate Dessoirs in allem Wesentlichen mit den meinigen überein.
Eine Hauptdifferenz findet sich nur in betreff der Blixschen Sinnespunkte, deren Existenz durch meine Versuche durchgängig bestätigt
worden ist, während Dessoir sie Kunstprodukte nennt und somit ihre Bedeutung in Abrede stellt. Wie es sich eigentlich hiermit
verhält, wage ich nicht zu entscheiden; Tatsache bleibt es jedenfalls — und das scheint auch Dessoir nicht zu bestreiten —,
daß durch punktuelle Reizung mittels Druck, Wärme oder Kälte von hinlänglicher Intensität Schmerzen verschiedener
Qualität entstehen, und dies muß wohl als Hauptergebnis meiner den Hautsinn betreffenden Versuche bezeichnet werden.
Inhalt. Seite
Die im Inhaltsverzeichnisse und im Texte in [ ] angegebenen Zahlen verweisen auf die Marginalzahlen.
Einleitung. l—11
Ziel und Wege der Untersuchung [1—8].
Die historische Entwickelung der Lehre von den Gefühlen [9—13].
I. Über die Natur der Gefühle.
A. Das Verhalten des Gefühls zu Empfindung und Vorstellung . 12-56
1. Bestimmung des Verhältnisses durch Selbstbeobachtung 12
Definition des Gefühls [14].
Bestimmung des Verhältnisses, Kants Theorie [15—21].
Konsequenzen der Kantischen Theorie [22].
Beweise für die Richtigkeit der Theorie [23—26].
2. Die Herbartianische Auffassung des Verhältnisses 27-35
Die Herbartianische Auffassung [27—28].
Kritik [29—35].
3. Psychophysiologische Untersuchungen über das Verhältnis. 36-71
Der Kantischen Theorie anscheinend widerstreitende Thatsachen [36—38].
Psychophysische Verhältnisse der Hautsinne [39—45].
Verschiedene Arten des Schmerzes [46—49].
Psychometrische Verhältnisse der Hautsinne [50—51].
Kein Intervall zwischen Empfindung und Gefühlston [52—57].
Keine isolierten Gefühlstöne [58].
Anästhesie und Analgesie [59—60].
Suggerierte Analgesie [61—63].
Betonung der Organempfindungen [64—67].
Resümee [68-71].
B. Das Verhältnis der Gefühle zu den körperlichen Zuständen . 72—133
1. Bestimmung des Verhältnisses zwischen Gefühl, Affekt und Stimmung.
Vorläufige Definition des Affekts [72—74].
Affekt und Stimmung [75—80].
2. Die historische Entwickelung der Untersuchungen über die körperlichen Äußerungen der Affekte.
Die frühere Auffassung [81].
Moderne Ansichten [82].
Langes Untersuchungen [83—90].
Möglichkeit experimenteller Untersuchungen [91—94].
3. Experimentelle Untersuchungen über die körperlichen Äußerungen der Affekte.
Versuchsanordnung und Apparate [95—98].
Einfache Lustzustände [99—104].
Einfache Unlustzustände [105—108].
Die physiologische Deutung des Beobachteten [109—119].
Wärme und Kälte [120—121].
Tabakrauchen, Reizwirkung und Vergiftungswirkung [122—123].
Ästhetische und intellektuelle Lust [124—125].
Erschrecken, Schreck, Furcht [126—131].
Kummer, deprimierte Stimmung [132—133]. Zorn [134—139].
Ergebnisse der Versuche [140—146].
4. Das Kausalverhältnis zwischen dem Gefühlszustand und den physiologischen Erscheinungen der Affekte.
Organgefühle als wesentliche Glieder der Affekte [147—149].
Motivierte und unmotivierte Affekte [150—154].
Bedeutung des primären Gefühls [155—156].
Verhältnis der Gefühlsbetonung zu den Organempfindungen [157—164].
5. Störungen des Vorstellungslaufes während der Affekte.
Störungen bei den normalen Affekten [165—169].
Störungen bei den unmotivierten Affekten [170—172].
Resultat [173—175].
C. Das Verhältnis des Gefühls zu den Willensäußerungen . 133—143
Affektäußerungen und Willensäußerungen [176—185].
Affekt, Trieb, Instinkt [186-191].
Ursprung der Willensäußerungen aus den Affektäußerungen [192].
D. Hypothese von der Natur des Gefühls. 143—161
1. Die Bedeutung der Gefühlstöne.
Verhältnis der Gefühlstöne zum Vorstellungsprozesse [193—197].
Verhältnis der Gefühlstöne zum Wohl und Wehe des Organismus [198—203].
2. Die physiologischen Bedingungen für das Entstehen der Gefühlstöne.
Verschiedene Ansichten [204—206].
Abhängigkeit der Gefühlstöne von der Ernährungstätigkeit [207—208].
Einwirkung des Energieumsatzes auf das Bewußtsein [209—212].
Erweiterung der Hypothese 213—215].
II. Die speziellen Gesetze der Gefühle.
A. Einleitung. 162—172
Veränderungen des Gefühlslebens während Erkrankungen [216—217].
Veränderungen des Gefühlslebens im Laufe der Zeit [218—219].
Frühere Bestimmungen der Gefühlsgesetze [220-223].
Plan der folgenden Untersuchungen [224—226].
B. Die Abhängigkeit des Gefühls von der Stärke der betonten Vorstellung. 172—181
Die intensive Schwelle [227—233].
Wachsen des Gefühls [234-236].
Übergang aus Lust in Unlust [237 - 239].
Resultat [240—241].
C. Die Abhängigkeit des Gefühls von der Zeitdauer der betonten Vorstellung. 182—196
Kontinuierliche und intermittierende Vorstellungen [242].
Die extensive Schwelle [243—244].
Veränderungen der Lustgefühle [245—248].
Veränderungen der Unlustgefühle [249].
Resultat [250-251].
Abstumpfung durch Wiederholung [252—253].
Unentbehrlichkeit des Angewöhnten [254—256].
D. Die Abhängigkeit des Gefühls von fremden, von außen hergegebenen Vorstellungen. 196—260
1. Die betonte und die modifizierenden Vorstellungen sind gleichartig und betreffen verschiedene Objekte. 196
a. Kontrast der Gefühle.
Beispiele des Kontrastes [257—259].
Bedingungen des Kontrastes [260—265].
Kontraststörende Verhältnisse [266-269].
Resultat [270-271].
b. Folgesätze des Kontrast- und des Zeitgesetzes.
Bedeutung der Folgesätze [272—273].
Das Folgegesetz [274—278].
Das Versöhnungsgesetz [279—283].
2. Die betonte und die modifizierenden Vorstellungen sind ungleichartig und betreffen verschiedene Objekte. 213
Gleichzeitig gegebene Vorstellungen; Gefühlsmischungen [284—289].
Wechsel der Gefühle [290—291].
Sukzessive gegebene Vorstellungen [292—296].
3. Die betonte und die modifizierenden Vorstellungen betreffen dasselbe Objekt. 220
a. Durch die Beziehung zusammenwirkender Vorstellungen erzeugte Gefühlstöne.
Gefühlstöne bei Identität oder Kontradiktion der Gedanken [297—298].
Gefühl der Leichtigkeit und der Klarheit [299].
Das objektive Wahrheitsgefühl [300—302].
Das subjektive Wahrheitsgefühl [303].
Verhältnis komplexer Vorstellungen zu Gedanken [304—305].
Ästhetische Beziehungsgefühle bei Malerei [306—310].
Bei Skulptur [311].
Bei Erzeugnissen der technischen Künste [312—313].
Resultat [314].
b. Verschmelzung gleichzeitiger Gefühlstöne.
Verbindungen niedrigsten Grades [315—317].
Innigere Verschmelzung [318—320].
Annäherung an gemischte Gefühle [321-322].
Gemischte Gefühle [323—326].
Resultat [327].
c. Die Stärke des zusammengesetzten Gefühls.
Summation der Gefühlstöne [328—331].
Intensität zusammengesetzter Gefühle [332—334].
Verhältnisse beim Zusammenwirken der Lust und der Unlust [335—336].
E. Die Abhängigkeit des Gefühls von fremden, reproduzierten Vorstellungen. 261-321
1. Die Reproduktion der Gefühle im allgemeinen.
Reproduktion der Gefühlstöne durch Vorstellungen [337—338].
Bedeutung reproduzierter Gefühle [339—342].
Verhältnis zwischen reproduzierten und direkt gegebenen Gefühlen [343—344].
2. Die Expansion und die Verschiebung der Gefühle
Expansion der Gefühle [345—349].
Scheinbare Verschiebung der Gefühle [350—354].
Wirkliche Verschiebung von Gefühlen [355-357].
3. Der Ursprung der körperlichen Äußerungen der Affekte.
Nähere Formulierung des Problems [358—360].
Ansichten Darwins [361—362].
Kritik der Darwinschen Ansichten [363 - 364].
Zweifache Erklärung möglich [365—366].
Die Associationstheorie [367—370].
4. Die Entwickelung der Affekte im Lebenslaufe des Individuums.
Entwickelung des Schrecks [371—373].
Entwickelung der Freude [374—383].
Entwickelung des Kummers [384—391].
Erwartung, Hoffnung, Furcht [392—396].
Entwickelung des Zorns [397—399].
Resümee [400—403].
III. Beitrag zur Systematik der Gefühle.
A. Die systematische Ordnung der Gefühle. 322
1. Prinzipien der Systematik. 322
Unabhängig variable Größen [404—406].
Systematisierung der psychischen oder der physischen Zustände [407—409].
2. Entwickelung eines rationellen Systems.
Bestimmung der unabhängig Variablen [410—415].
Graphische Darstellung des Systems [416—418].
Simplifikation des Systems [419—420].
B. Anordnung der einzelnen Gefühle im Systeme. 339—356
Einteilung der Beziehungsgefühle [421].
Die Beziehungsgefühle [422—424].
Einteilung der Inhaltsgefühle [425—426].
Die Tätigkeitsgefühle [427].
Die Selbstgefühle [428].
Die autopathischen Gefühle [429—430].
Die ästhetischen Gefühle [431—432].
Die sympathischen Gefühle [433—436].
Die religiösen Gefühle [437—439].
Die Gefühlsmassen [440].