"Virtuelle und Erweiterte Realität"

Zur Internationalen Statustagung des BMBF vom 5. bis 6. November 2002

Nachdem unsere Vorschläge für die Belebung der Web3D-Technologien irgendwie bei der DLR bzw. dem BMBF verlustig gingen, erhielt ich kurzfristig von "einem Freund der Informatikförderung" die Nachricht zu obiger Veranstaltung, die "offen und kostenlos" sei.

Unter http://informatiksysteme.pt-it.de/vr-ar-2/ können auch im Detail die Vorträge nachgelesen werden. Da die Community kaum beteiligt war, und das Lesen der Beiträge die Thematiken nicht unbedingt näher bringt, fasse ich dazu einiges zusammen.

Ergänzungen und Korrekturwünsche sind herzlich willkommen.

Wieland Zumpe Leipzig, den 12. November 2002

 

Allgemein

Man kann die Realität gar nicht so gut erfinden, wie sie ist. So verwendet man im BMBF den Begriff der "Erweiterten Realität" als Kombination zwischen virtueller und realer. Zumindest macht man sich Gedanken darüber.

Jedenfalls gibt es bei den Web3D-Technologien, die bereits einige Stufen durchlaufen haben und vor weiteren stehen, einige Entwicklungen, die sich von bisherigen unterscheiden. Gegenwärtig trifft dies insbesondere auf die Erweiterung von Peripherien und damit Anwendungen zu.

Die Veranstaltung war sozusagen das "Vorsingen" zur Halbzeit des Projektzeitraumes.

Zu den vorgestellten Themen

Die wichtigste Adresse für unseren Interessentenkreis ist OpenSGPLUS. Ein Download ist auch schon da, allerdings fehlten mir (bei Linux soll alles laufen) auf XP einige Bibliotheken als ich gleich nach dem ersten Tagungsabend alles lud und installierte. Also am einfachsten dann Herrn Dr. Reiners anmailen.

Danach wird es Web3D-mäßig schon etwas mager.

Das heißt, der Schwerpunkt liegt bei Produktentwicklungen, was derzeit online kaum entsprechend herüberkommt: Brillen, Helme, Sensoren, Kameras, Projektoren, PDAs etc.

Die plausibelsten Anwendungen fangen da an, wo die Sinnesorgane versagen. Ein schönes Beispiel dafür ist das Schweißen. Hierbei geht es darum, dass dem Schweißer mittels ("Head Mounted Display" oder sagen wir einfacher) Augenprojektoren im direkten Arbeitsvorgang eben jene Bildinformationen zugespielt werden, die er sonst eher "blind" beherrschen muss. D.h. die bisher fehlenden Umgebungsinformationen werden durch spezielle Kameras eingepasst (Know-how-Entwicklung: Kameras und Brillen, Koordination in Echtzeit und Portabilität des Gerätes).

Im Bereich der Medizin gab es mehrere Beispiele, wobei wesentliche Anwendungen bei den komplexen Anforderungen noch in den Anfängen liegen (s.u.). So bezieht sich der Einsatz von VR-Technologien mehr auf den didaktischen und Ausbildungsbereich.

Eindrucksvolle Beispiele wurden hier vortragen:

Felsenbeinoperation (Beispiel für die chirurgische Ausbildung, wo schwierige Operationen zigfach geübt werden müssen, bevor sie beim Patienten ausgeführt werden können - Feinoptimierung)

Bauchoperationen (Trainingsoptimierung - man muss sowohl ein Gefühl für die eingesetzten Instrumente der minimal-invasiven Chirurgie, die Konsistenz des Gewebes als auch u.a. für die Operation selbst bekommen)

Orthopädie (interaktive manuelle Übungen der Kraftübertragung an Puppen, wenn z.B. 60 verschiedene Tests am Kniegelenk gelernt werden müssen - u.a. Entwicklung körperadäquater tastbarer Materialien)

Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie (Veränderungssimulation während der Operation)

Operationshilfen durch Displays (Dem Chirurgen werden dreidimensionale Darstellungen vom Inneren des Körpers eingeblendet.)

Entwicklung haptischer Sensoren (Hierbei handelt es sich um neu zu entwickelnde Tastsensoren, die mit Ultraschallmethoden verknüpft werden, so dass der Arzt mittels seiner Druck- und Bewegungsempfindung "ortsunabhängig" und ggf. fokussierend (!) Untersuchungen durchführen kann mit gleichzeitiger verbesserter Datenqualität. Dies wird generelle Auswirkungen auf unterschiedlichste Gebiete haben - Schalter, Unterhaltungselektronik, Robotik.)

Vorgetragene Entwicklungen von Geräteperipherien durchziehen weitere Anwendungsgebiete. Dazu gehören:

Die Weiterentwicklung der Laser-Projektionstechnologien, die in die Lage versetzt werden sollen, komplexe 3D-Inhalte auf Mehrkanalprojektionssystemen umzusetzen (für Multimedia-Plattformen - auch bei unterschiedlichen Kamera- und Projektorstandorten sowie differierenden Lichtverhältnissen). - Leider funktionierte keines der angekündigten Geräte. Interessenten melden sich bitte in Gera.

Die 3D-Bekleidungsanprobe mit Laserscanner (Auch wenn die Technologie schon einige Jahre durch die Medien geistert, hat sich an den Kostenstrukturen kaum etwas Entscheidendes verbessert, abgesehen von Akzeptanz und allgemeiner Praktikabilität.)

Für PDAs werden immer noch sinnvolle Anwendungen gesucht. Am Beispiel eines Elektroherdes wurde versucht, Kamerainformationen mit Zusatzinformationen über das Gerät zu koppeln. Ein anderes Beispiel galt dem historischen Erleben im urbanen Umfeld.

"Erweiterte Realität" besteht bei den größeren Firmen insbesondere darin, komplizierte Anlagen besser überschauen, Fehler schneller beheben und einfacher pflegen zu können. Daher sollen virtuelle Informationen eingesetzt werden, um das entsprechende Teil schneller zu finden, die Montagehandgriffe problemlos parat zu haben bzw. z.B. Kontrollpunkte schneller abarbeiten zu können.

Um sich besser virtueller Welten zu bedienen, kann man sich auch einen ganzen Baukasten leisten, wo erst einmal Bedienungsmöglichkeiten und Freiheitsgrade erprobt werden.

Manches, was vorgetragen wurde, kommt den Eingeweihten reichlich bekannt vor, insbesondere, wo Wollen und Können aufeinandertreffen. Einige Projektteile sind voraussichtlich in den Sand gesetzt, aber das muss auch in der Forschung sein. Weitere Anwendungen waren:

Virtuelle Archäologie (3D-Visualisierung dessen, worüber sich die Gelehrten schon immer stritten und nun endlich ein Arbeitsmittel in der Hand haben, auf dem man aufbauen kann)

Anwendungen für die bessere Handhabungen von Bühnen-, Licht- bzw. Veranstaltungstechnik

Nichtlineare Dramaturgien für Virtuelle Umgebungen (In Köln ist dieses Projekt angesiedelt, vornehmlich wird mit Maya operiert, die ambitionierten Vorstellungen von den Storyboards bildeten den inhaltlichen Abschluss der Tagung.)

Allgemein kann positiv vermerkt werden, dass die linuxbasierten Anwendungen erfreulich hoch waren (schätzungsweise sogar dominierten).

Auswertung

In seinem Schlusswort gab dann Dr. Bernd Reuse vom BMBF Tipps für den Restlaufzeit der Projekte und Kriterien für eventuelle neue. Er sagte von sich selbst, dass er seit 30 Jahren Sinn für neue Dinge hat und neue Wege eröffnet. Er "habe ein Auge dafür".

Das schrammt nun reichlich an einer Wissensgesellschaft vorbei.

Aus diesem Grunde müssen mal einige Punkte genannt werden, wobei ich auch auf unsere Seiten zur IT-Forschung 2006 verweise. Denn schließlich geht es um schnellere, effizientere Know-how-Entwicklung und Anwendung.

Und hier hapert es an mehreren Stellen.

Das beginnt schon mit dem Grußwort des Staatssekretärs, Herrn Dr. Ing. E.h. Uwe Thomas, im BMBF, nachdem die "besten 15" Projektvorschläge gefördert werden. Merkwürdig ist dies schon deshalb, weil es nie Fachdiskussionen seitens des BMBF zu Vorschlägen gab (als ich seit 1998 z.B. für das Programm MEDIA@Komm entsprechende Beiträge einbrachte). Und wenn man sich auf Expertenmeinungen stützen will, hätten man sich ja eigentlich die Mühe machen können, die zu fragen, die sich direkt mit der Materie befassen.

Ein weiterer Widerspruch ergibt sich hinsichtlich "kleiner und mittlerer" Unternehmen, wo immer wieder "neue Bundesländer" auf dem Papier herbeizitiert werden, für die dieses Themenfeld erschlossen werden soll.

Tatsache ist, dass es keine strukturadäquate und damit volkswirtschaftlich sinnvolle Herangehensweise gibt. Entsprechende Stellen, die in Ostdeutschland fehlen, werden seit Jahren in Westdeutschland ausgeschrieben, entsprechend ist auch die Mittelverteilung... Tatsache ist auch, dass gerade in Ostdeutschland über 80% der außeruniversitären Forschungspotenziale in der Deutschen Einheit abgebaut und bei den IuK-Technologien nichts annähernd Gleichwertiges wie in Westdeutschland aufgebaut wurde.

Dieses Manko ist allerdings nicht einmal ein "gesamtdeutsches", denn entscheidend soll ja bei den meisten neuen Technologien nicht der Ort sein, sondern die Potentiale dort zu fördern, wo sie wachsen, gleich ob in Neuseeland oder Kötzschenbroda.

Und da ist der Verwaltungsaufwand für den Normalbürger oder dessen Firma einfach zu hoch. Das können sich meist nur staatlich finanzierte Einrichtungen leisten... (Die Ineffizienz liegt bereits bei Wettbewerben selbst, wo jeder Bewerber einen Aufwand hat, der - alle zusammengenommen - das übersteigt, was die Gewinner bekommen. Hier werden Zeit, Geld und Ressourcen verschwendet.)

Möglichkeiten

Was eigentlich zählt, ist der Nutzen für die Allgemeinheit und deren Stimmungslage, die weiteren Nutzen bewirken kann. Das heißt

1. Projekte können "eine Etage tiefer gelegt werden". Mit vereinfachten Verfahren kann eine größere Beteiligung erwirkt und wesentlich mehr erreicht werden.

2. Web3D-Technologien müssen technologieadäquat im Internet kommunizieren und letztendlich prüfbar sein. Nicht PDF-Dateien mit dem Siegel der BMBF-Förderung sind gefordert, sondern direkte Nutzungen der Projekte über das Internet.

3. Communities müssen unterstützt werden. Sie tragen wesentlich zu Problemlösungen, zur Verbreitung der Technologien und zu Technologiedidaktik bei. Dies bezieht sich nicht nur auf Software, sondern auch auf Produkt- und Organisationsentwicklung.

4. Die muttersprachliche Einbindung neuer Technologien darf nicht länger vernachlässigt werden, weil damit auch deren Akzeptanz und Anwendungen "bedroht" sind.

 

Um auf die Statustagung zurückzukommen: Zahlreiche Fehlentwicklungen lassen sich vermeiden.

Wenn u.a. im Orthopädiebeispiel auf 3D-Studio-Dateien zurückgegriffen wird, anstatt mit algorithmischen Nurbslösungen variable und adaptierbare Testbedingungen zu schaffen, ist das nur die "Spitze vom Eisberg".

Die Frage naturadäquater Herangehensweisen innerhalb der Web3D-Technologien sind gerade in der Medizin unterentwickelt.

Ebenso ist die gesamte Palette körpereigener biologischer Vorgänge mittels Web3D-Technologien derzeit nicht in Betracht, wenn es u.a. um die derzeitige Chirurgie geht.

Und so könnte man reihenweise bis ins Detail gehen. Doch was und wem nützt das, wenn ohnehin wie "seit 30 Jahren Sinn für neue Dinge" verteilt wird ??

 

Stand 12.11.2002